Bis zum letzten Atemzug


Menschen, die gestern noch am Frühstückstisch saßen und heute im Sterben liegen: Das ist auf der Neurologie-Intensivstation der Universitätsklinik Frankfurt leider keine Seltenheit. Für die Angehörigen ist dies ein schreckliches Ereignis. Umso wichtiger ist es, dass ihnen in dieser Zeit jemand zur Seite steht. Klinikseelsorger Helmut Preis ist so eine Person. Er begleitet Sterbende und ihre Angehörigen während des Abschieds. Im Interview erzählt er von dieser herausfordernden Aufgabe.
Wann ist der Moment, in dem Sie als Klinikseelsorger gerufen werden?
Ich kann da jetzt nur für die neurologische Intensivstation sprechen. Da sind in der Regel Menschen, die eine schwere Hirnblutung haben. Diese Menschen können gestern noch mit ihren Angehörigen am Kaffeetisch geplaudert haben und werden dann zum Beispiel durch einen Unfall oder ein geplatztes Aneurysma mitten aus dem Leben gerissen. Die Patientinnen und Patienten liegen dann auf der Intensivstation, sind sediert und müssen beatmet werden. In einigen Situationen wie diesen ist – bei aller ärztlichen Kunst – keine Rettung mehr möglich. Die Angehörigen müssen dann entscheiden, wie es weitergeht. Häufig mündet es darin, dass entschieden wird, die Maschinen abzustellen, damit die Patientinnen oder Patienten in Frieden versterben können. In solchen Situationen werde ich gerufen.
Wie geht es dann weiter?
Ich spreche dann zunächst mit den Angehörigen im Gesprächsraum. Da bekomme ich erzählt, wie die Patientin oder der Patient gelebt hat, wie die Beziehung der Angehörigen zu ihm oder ihr ist. Wir sprechen über das Abschiednehmen und das Loslassen. Die Gespräche dauern meistens über eine Stunde und sind manchmal auch von Momenten des Schweigens geprägt. Diese Momente auszuhalten, ist ganz wichtig. Die Angehörigen können ihre Gedanken sortieren und das Gesagte verarbeiten. Meistens gibt es noch ein zweites Treffen. Wenn die Angehörigen entscheiden, die künstliche Beatmung einzustellen, wird ein Arzt gerufen. Die Angehörigen gehen dann aus dem Zimmer, die Patientin oder der Patient wird extubiert und die Medikation wird eingestellt – bis auf die Schmerzmittel und die Sedierung. Je nachdem wie hoch die Restatmung oder der Eigenreflex noch ist, dauert es zwischen 15 Minuten und zwei Tage, bis die Patientin oder der Patient verstirbt. In dieser Zeit bin ich für die Angehörigen da und begleite sie – bis zum letzten Atemzug ihres geliebten Menschen. Am Sterbebett biete ich auch den Sterbesegen an.

Was ist der Sterbesegen?
Der Sterbesegen ist eine Form des Gebets. Das kann man individuell auf die jeweilige Situation und den jeweiligen Menschen anpassen, also wenn zum Beispiel ein Kind stirbt, eine demente Person oder jemand, bei dem lebenserhaltende Maßnahmen abgestellt werden, was besonders auf mein Tätigkeitsfeld in der Neurologie zutrifft. In dem Gebet gebe ich den Verwandten das Vertrauen mit, dass ihre Angehörige oder ihr Angehöriger jetzt Gott anvertraut ist und Gott ihr oder ihm gnädig und gütig entgegenkommt. Außerdem wird im Sterbesegen auch nochmal ein Dank formuliert – für die Zeit, die man mit dem geliebten Menschen auf der Erde hatte. Die Angehörigen haben dann die Möglichkeit, in ihren eigenen Gedanken nochmal ganz viel von dem Sterbenden lebendig werden zu lassen.
Was bedeutet der Sterbesegen für die Angehörigen?
Für viele Angehörige ist es ganz wichtig, in dieser Sterbesituation auf ein Gebet zurückzugreifen. Im Ritus liegt eine große Kraft, die in dieser extremen Situation der Unsicherheit einen Halt geben kann. Wenn eine Familie eine intensive Beziehung zu Glaube und Kirche hat, wird auch häufig nach einem Priester gefragt, der die Krankensalbung spendet.
Gab es eine Situation, an die sie sich noch besonders zurückerinnern?
Ich erinnere mich noch gut an eine junge Frau. Sie war erst 21 Jahre jung und hatte einen Autounfall. Ihre Eltern und die jüngere Schwester waren hier und mussten die Entscheidung treffen, die lebenserhaltenden Maßnahmen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Dazu muss man wissen: So, wie die Patientinnen und Patienten hier im Bett liegen und beatmet werden, sieht es aus, als würden sie schlafen. Die Angehörigen haben dann immer das Gefühl, dass die Person gleich aufwacht und alles ganz normal ist. Aber dem ist leider nicht so. Gerade wenn es sehr junge Menschen sind, ist es extrem heraufordernd und die Familien hoffen auf ein Wunder, das doch nicht eintritt.
Was lösen solche Situationen bei Ihnen aus?
Das sind Situationen, in die ich hochkonzentriert hineingehe, in denen ich meine Wahrnehmung auf alles richte, was in dem Zimmer auf der Intensivstation passiert. Ich achte auf alles, was die Angehörigen sagen und bin natürlich auch selbst berührt von dem, wie sie empfinden. Ich glaube, das ist ganz wichtig, denn nur so kann ich ihnen angemessen zur Seite stehen. Ich tue mein Bestes, um die Angehörigen in dieser schrecklichen Situation zu trösten. Wenn ich mich dann verabschiede, brauche ich auch immer erst mal Zeit, um Luft zu holen und die Anspannung abzubauen. Das ist nichts, was ich einfach mal so abschütteln kann.
Sterbesegen
Der Sterbesegen kann von jedem Menschen gespendet werden – in Krankenhäusern, in Alten- und Seniorenheimen, im Hospiz oder zuhause. Zur Unterstützung aller, die in der Begleitung Sterbender und deren Angehörigen tätig sind, hat das Bistum eine Karte mit einer Grundform des Sterbesegens herausgegeben. Die Bestellung der Karte ist per Mail an liturgie@bistumlimburg.de möglich.